Der erste Schnee.

Eine Episode aus dem Kriege von 1870/71.
Von Josef Maertl
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 07.12.1902


Es ging los auf Paris.

Die Maasarmee, die Nordarmee, sie waren bereits nach Gewaltmärschen vor der bisher unbesiegbaren Festung Paris angekommen, und von Süden her strebte die Armee unseres „Fritz” heran, freilich auf sehr langsamem Fuße.

Die gesamten Etappenwege waren verwüstet, die Franktireurs, die Leute, welche den heranmarschirenden Prussiens einen „Schabernack” spielen wollten, sie thaten ihr Möglichstes, um auf den befahrenen Strecken Eisenbahnschienen aufzureißen, Eisenkörper über das Geleise zu legen, Brücken zu unterminiren und Wärtersignale zu zerstören.

„Unser Fritz” war kein Neuling in diesen Praktiken, deshalb befahl er einen strengen Aufklärungsdienst; und dieser betraf das erste bayrische Armeekorps. Noch ist in aller Krieger Erinnerung, wie sich das Korps „Von der Than” nach der Erstürmung von Orleans an die Tête stellte und hier von Nancy aus bis Paris eine bis jetzt noch nie erreichte Sicherheit der Eisenbahnen für die nachfolgenden deutschen Transporte bildete.

Und was war nicht alles hineinzuschaffen nach der umlagerten französischen Hauptstadt?

Aus Ulm, Ingolstadt kamen die schweren Belagerungsgeschütze, Bayern, Württemberg, Baden, Sachsen schoben ihre Reserven nach, stündlich passirende Extrazüge brachten frisches Pferdematerial, Proviant, Fourage und Liebesgaben aus dem gesamten Deutschland, und von Paris kamen in endlosen Zügen die Todten, Verwundeten und Rekonvaleszenten, deren Parole: „Heimath” lautete.

Brigade-, regimenterweise wurden die bayrischen Truppen zur Sicherheit der Haupteisenbahnstrecke kommandirt. „Alle zwei Tage auf Wache!” das war die Parole, und die braven blauen Jungens waren zufrieden, wenn sie auf die Wache ziehen mußten mit dem Bewzßtsein: „Du hast ja die letzte Nacht geschlafen. Wie Gott will — nun kann's wieder zwei Nächte durchgehen!”

In dieser Situation steckte auch das 1. Bayrische Jägerbataillon.

Drei Tagmürsche vor Paris bekam es an einem Sonntag den Befehl: „ Ausrücken zur Sicherung der Linie!”

Ein Befehl ist Befehl, und er wird um so strenger im Kriege gehandhabt.

Der Kommandeur, Major von Krafft, formirte seine Truppe, gab nach den gezeichneten Croquis die Informationen an die Hauptleute und dann gings los.

Der Hauptmann der III. Kompagnie hatte die Aufgabe erhalten, mit seinen Leuten fünf Kilometer weit den Schienenstrang zu revidiren.

Die beiden Leutnants waren bereits vor Orleans gefallen, das Kommando der einzelnen Züge mußte daher dem Fähnrich, dem Vize- und dem Feldwebel übertragen werden.

Der Kompagniechef wußte aber, er konnte sich auf seine Leute verlassen.

Darum befahl er: „Feldwebel Huber erste Klärung: links des Bahnsteiges. Vizefeldwebel Kliem: zweite Klärung: rechts des Bahnsteiges. Fähnrich von Helden: Geleise-Patrouille.”

„Zu Befehl!” sagte der Feldwebel und drei Stunden später trabten sie ab.

Es war ein kalter Dezemberabend.

Bleigrau hingen die Wolken hernieder und ein leiser kalter Wind strich über die Gegend.

„Es giebt Schnee, Fähnrich,” meinte ein ergrauter Sergeant, der sich mit seinen Leuten und dem angehenden jungen Offizier auf den Eisenbahndamm hinaufgearbeitet hatte. „Herr Fähnrich, der Wind kommt von Norden.”

„Ja, kommt von Norden,” replizirte der Fähnrich. „Hol der Teufel, es ist auch besser wie das ewige Schlapperwetter!”

„Jawohl, es schneit. Du liebe deutsche Heimath, wie mag es erst bei Dir zu Hause aussehen!”

„Platz — Platz!” kommandirte der vorgehende Unteroffizier und er hatte recht.

Zwei Maschinen wurden sichtbar und durchsausten das Terrain.

„Noch keine Lichter und schon so finster,” murmelte der Fähnrich. „Leute, paßt auf, daß kein Unglück passirt.”

Und langsam tappten sie vorwärts.

Vom bleigrauen Himmel hernieder fiel der erste Schnee. In großen schweren Flocken tanzte er hernieder, so im Wirbelkreis, wie wir ihn schon so oft beobachtet haben.

Es wurde Nacht, stockfinstere Nacht, denn kein Mond war zu sehen.

Auf einmal gab der an der Spitze der Kolonne marschirende Hoboist das Alarmsignal.

Mit: „Gewehr über! Bataillon marsch, marsch!” ging's vorwärts.

„Herr Fähnrich!” keuchte der Etappenunteroffizier athemlos, „sehen Sie her. Die Schienen sind hier mit einer riesigen Eisenschiene überlegt, und diese Schiene ist verrammelt.”

„Weg machen — weg bringen!” befahl der Fähnrich, nachdem er sich orientirt hatte.

In demselben Augenblick wurde vom nächsten Bahnwärterhaus das Alarmsignal eines Zuges hörbar. „Ting ting, tang tang!” die Mannschaft durchschauerte es. In zehn Minuten mußte der Zug an der Stelle sein, und er mußte an dem Hinderniß zerschellen, entgleisen, wenn es nicht hinweggeschafft werden konnte.

Der Fähnrich zog die Uhr, dann erblaßte er.

„Alle Mann ran!” sagte er. „Bis zur letzten Selbstaufopferung. Nun kommt der Extrazug mit dem Kronprinzen Friedrich und dem bayerischen Infanterieleibregiment. Ran an die Arbeit, wir müssen ein fürchterliches Unglück verhüten.”

Und wie die Löwen stürzten sich die braven Jungen auf die Arbeit.„Ruck — Ruck!” so ertönte es aus ihren Reihen. Mit Gewehrkolben wurde das Hinderniß aus der Erde gerissen, die Minuten wurden ihnen zu Stunden.

„Rück! ruck!”

„Vorwärts, vorwärts,” befahl der Fähnrich und legte sich auf die Erde, um mit seiner schwachen Körperkraft das Menschenmöglichste zu thun.

Und „ruck! ruck!” Eine Seite war frei.

„Um Jesus Willen vorwärts!”

„Ruck, ruck, ruck, ruck!”

Die Jäger keuchten, die letzte Kraft wurde angespannt, um das verbrecherische Hinderniß zu entfernen.

„Ruck! ruck!”

Nun hörte man den Zug über die große Brücke von Vionville donnern. Noch ein kleines Wäldchen trennte ihn von seinem Verhängniß.

„Ruck! ruck!”

Finger krallten sich in dem gefrorenen Erdreich wund. Noch drei Zoll lag die gefahrdrohende Eisenschiene auf dem Geleise.

! Ruck! ruck! Jungens ran! Ruck! ruck!”

Jetzt wurden die Lichter der Maschine an der Biegung des Waldes sichtbar. Höchstens tausend Meter.

„Ruck! ruck!”

Immer näher kam das Feuerauge. Der Boden fing an zu dröhnen, die Schienen zu singen.

„Um Jesus Willen noch einen Ruck!”

Im nächsten Moment sauste mit zwei schweren Gebirgslokomotiven der schier endlose Train vorbei, ahnungslos der Gefahr, der er entgangen war.

Betäubt von dem Luftdruck, erschöpft von der unmenschlichen Aufregung, standen die braven Jungen bei Seite und starrten dem rothen Lichte der Schlußlaterne nach, die in der Ferne im Nebel verschwand. Sie Alle wußten, sie hatten eine große That vollbracht, aber nun, wo die Gefahr vorüber war, nun erst zitterten sie vor der Größe derselben.

Vom Himmel tanzten noch immer die Flocken hernieder und hüllten Mutter Erde in ein schneeiges Kleid.

„Na, Jungens los,” befahl der Fähnrich, wie von einer glücklichen Eingebung erfaßt. „Die Gefahr ist überwunden. Nun laßt uns die Kerle finden, die sie heraufbeschworen. Der erste Schnee, das ist der beste Leithund, wir werden sie finden!”

Ein kräftiges „Hurrah!” lohnte diesen Befehl, und nun ging's an das Recherchiren.

Und das war nicht schwer.

Gar bald hatte einer der Jäger Fußspuren herausgefunden, die nicht den preußisch-bayerischen Militärstiefeln angehören konnten.

Sie führten feldeinwärts auf ein Gehöft zu.

„Bravo,” sagte der Fähnrich, „Junge, ich sehe, Du warst in Deiner Heimath entweder ein Jäger oder ein Wildschütz.”

„Dös letztere bin i g'wesen,” meinte der Jäger bescheiden. „I woaß halt nur gar zu guat, wie man einem Fuchs auf die Spur geht.”

„Schön, schön,” murmelte der Fähnrich, „aber trotzdem los.”

Jetzt kam den jungen Kämpfern das Schicksal zu Hülfe. Der Mond, der sich so lange versteckt hatte, brach durch die Wolken und beleuchtete die Pfade.

Der Jäger, der „Pfadfinder”, ging voran, hinter ihm her die ganze Korporalschaft, das schußfertige Gewehr in der Rechten.

Wohl eine halbe Stunde lief der Pfadfinder feldeinwärts, da machte er vor einem Gehöfte halt.

„Hier sand sie, Herr Fähnrich,” sagte er, „was befehlen Sie?”

„Das Haus wird umzingelt, die Bewohner herausgeholt!” lautete die Antwort; die Jäger hielten Rath. Man war sich bald einig. Dreizehn Mann besetzten das Gehöft und fünfzehn begehrten Einlaß.

Die Haustür war offen.

„Ein böses Omen,” meinte der Sergeat Meyer.

„Fähnrich, sehen Sie sich vor!”

„Ist kein Licht da?” fragte dieser etwas unruhig.

„Jawohl, Licht ist hier, Herr Fähnrich.” Einer von den Jägern zog eine Kerze aus der Tasche, diese wurde entzündet, und mit Hülfe ihrer Leuchtkraft ging man an die Untersuchung des Hauses.

Es dauerte gar nicht lange, so traf man auf ein Gemach, in dem vier Männer schliefen.

Schweigend wurden sie beobachtet.

„Sie sind's,” sagte der Fähnrich. „Seht Ihr noch die frischen Schneespuren an den Füßen?”

Und in der That; Es zeigten sich noch die letzten Ueberreste des ersten Schnees.

Sofort wurde an ihre Verhaftung geschritten.

Es war der Maire des Dorfes, sein Schwager und zwei Freunde.

Der Fähnrich war aber ein ganzer Mann; er hielt eine gründliche Hausdurchsuchung und da wurde gar Manches gefunden, was noch mehr ausschlaggebend für die Schuld der Gefangenen war.

Sie wurden eingeliefert und zwei Tage später krachten nach kriegsgerichtlicher Entscheidung drei Salven — sie hatten ihr beabsichtigtes Mörderwerk mit dem Tode bezahlt.

Der junge Fähnrich aber ist sofort Leutnant geworden, die „Spürnase” Unteroffizier und heute werden sie — wohl längst schon in Staatsstellungen — des ersten Schnees gedenken, der ihnen damals zur Ermittelung der Verbrecher dienlich war.

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